MICHAEL SETZER, (38) Redakteur bei PRINZ, Blogger bei gig-blog.net, kessel.tv, Freizeit DJ und Gitarrist bei end of green, ist in Stuttgart geboren, woanders aufgewachsen und aus freien Stücken wieder zurück gekommen. Ihm gefällt’s hier.
So, letzte Dehnungsübung. Muss man machen, bevor man sich sportlich betätigt. Ausholen zum Beispiel. Einmal nicht aufgepasst, schon eine Zerrung eingefangen. Kann einem die ganze Saison verhageln. Sportler machen das, ich auch. Obwohl ich keiner bin.
Vergangenes Wochenende hab ich einen Sportler gesehen, er stieg nachts gegen 2 Uhr völlig besoffen aus dem Mannschaftsbus eines regionalen Fußballteams aus und kotzte minutenlang vor die Treppe der Stadtbahnhalte „Stadtmitte“. Ein anderer hielt ihn dabei im Arm, fürsorglich wie das nur echte Freunde tun können.
Ein paar Meter weiter schauten zwei hochgestöckelte Frauen mit Gürteln, wo andere Frauen Röcke tragen in einem Schaufenster nach, ob das, was sie für Frisuren hielten, noch topp in Schuss wäre. Unter ihren Absätzen hätte sogar Pavel Pogrebnyak einen Ball durchschießen können. Sie erinnerten mich an die Zeit als ich noch Kabelfernsehen hatte und mir Frauen zu vorgerückter Stunde auf Kabel 1 ihre Telefonnummern zugeröchelt haben. Die hier nickten nur kurz, lachten laut, stöckelten zufrieden weiter und dufteten dabei so stark, dass einer meiner Begleiter 200 Meter später sagte: „Das ist ein sehr nachhaltiges Parfüm.“
In der U14 habe ich einen Typen gesehen: Seine Hose war zu groß, das T-Shirt mit unleserlichem Zeitgeist bedruckt, er kaute ständig und versuchte wie einer zu wirken, mit dem man sich besser nicht anlegt. Migrationshintergrund hatte nicht nur die Frisur, die unter der zu schiefen und zu großen Baseballkappe herauslukte. Er steckte ein Bein zwischen die sich schließenden Türen, die dann flugs wieder aufgingen und verschaffte einer älteren Dame damit genau die Zeit, die sie brauchte, um die Bahn noch zu erreichen: „Danke, junger Mann“, schnaufte sie. „Yo, basst scho“, sagte er. Und ein kleines Lächeln später war er schon wieder arschcool.
Ich habe einen Taxifahrer getroffen, der mich fragte, ob es möglich wäre, ihm nicht ins Taxi zu kotzen. Er hätte es heute Nacht schon zwei Mal geputzt und ein drittes Mal würde ihn an die Grenzen seiner Ruhe bringen. Ein Kerl im Oblomow schlief einmal noch während der Getränkebestellung auf meiner Schulter ein. Er fragte mich vorher
nicht mal nach meinem Namen. Ich habe auch von einer Frau gehört, die dort auf der Toilette erzählte, dass gleich zwei Stalker sie belästigen würden und sie nicht nach Hause könne, weil diese Typen ihre Wohnung mit giftigen Chemikalien verseucht hätten. Zur Schwester könne sie auch nicht gehen: Die dumme Sau war schon immer neidisch auf sie. Ihr Ausschlag im Gesicht kam von den Chemikalien.
Ich habe Frauen auf dem Herrenklo im Keller Klub hinterhergebrüllt, sie sollen sich bitteschön setzen, wenn sie sich schon vordrängeln. Ich habe Männer im Aer-Club gesehen, die Krachlederne trugen und seelenruhig unter den Tisch kotzten, während Julian Smith miese Musik auflegte. Ich habe Frauen belauscht die zu anderen Frauen sagten: „Echt?! Dann hätte ich seine Mutter gar nicht beleidigen müssen?“ und Clubbetreiber gesehen, die vor ihrem eigenen Laden umdrehten und dabei „Oh, nö“ sagten.
Im Zwölfzehn habe ich einen Typen gesehen, der nicht ansatzweise cool war. Er tanzte wie ein Idiot. Ich kenne das Problem. Deswegen tanze ich erst ab 1,9 Promille. Da ist eh alles wurscht. Er schwitzte trotzdem und sein hellblaues FDP-Karo-Hemd war schon recht nass.
„Wir haben ein Problem!“
„Wir?“
„Naja, meine Brille…“
„Du hast keine Brille.“
„Exakt. Auf meiner Nase ist sie nicht und in der Hemdtasche auch nicht. Muss hier irgendwo rumliegen. Total beschissen, ohne Brille die Brille zu suchen.“
Dann haben „wir“ sie gefunden. Herzlich gelacht. Fünfzehn Schnäpse getrunken und zusammen getanzt, dass Carlton Banks stolz auf uns gewesen wäre. Keine Ahnung, wie der Typ hieß. Trotzdem toller Abend. Okay, das mit den Schnäpsen und Tanzen war gelogen. Ich geb’s zu.
Aber Stuttgart ist voll von Lügnern. Manche von denen behaupten sogar, die Stadt wäre so langweilig wie TV-Schmonzetten mit Christian Kohlund. Dabei habe ich mal einen älteren Herren getroffen, der mir eine Schutzbrille von Bosch schenkte, weil das Tränengas dann nicht so brennen würde und eine Rentnerin wischte mir mit einem feuchten Handtuch das Gesicht ab. In langweiligen Städten passiert so was nicht.
Und ich habe einen Kerl gesehen, der auf der Zwölfzehn-Toilette mit dem Handy seinen Schwanz fotografierte, dabei laut lachte und „Alter!“ sagte. Gottbewahre, ich hab nicht genauer hinsehen und schon gar nicht vergleichen wollen.
Wir Stuttgarter machen das viel zu oft. Vergleichen. Nicht Schwänze. Unsere Stadt. Der Hans-Im-Glück-Brunnen hätte was von Italien, der Westen was von San Francisco, der Aer-Club was von New York und Heslach was von Brooklyn und natürlich sei Stuttgart viel schöner als Berlin. Als würde man sagen: „Ich liebe meine Freundin. Sie sieht fast aus wie Scarlett Johansson.“
Meine Stadt wird immer nur so stark sein, wie die Leute, die in ihr wohnen. Stuttgart kann so viel sein. Man muss nur genauer hinsehen. Wer das nicht kann, geht zu Fielmann oder nach Berlin. Dazwischen gibt’s nix.