Jazzanova > Coming Home

Coming Home: der Titel stellt den Compilern dieser Reihe schon eine Aufgabe. DJ Hell hat ihn quasi volkstümlich interpretiert und (fast) nur Musik aus Deutschland zusammengestellt (oder zumindest mit Deutschland-Bezug).

Für Nouvelle Vague bedeutet Heimat wohl, da sind sie ihrem Namen verpflichtet, das Kino. Weshalb sich auf ihrem Beitrag zur Reihe nur Soundtrack-Stücke befinden.

Artist: V/A Titel: Jazzanova Coming Home Label: Stereo Deluxe Vertrieb: Warner VÖ: 26.08.2011

Jazzanova, das umtriebige Produzenten- und DJ-Kollektiv hingegen hat sich für Stücke entschieden, die sie (auch) gerne zu Hause hören. Eine eklektische Soundwelt, in der sie sich wohlfühlen. Der Unterschied zu bisherigen Jazzanova Compilations ist, dass diesmal nicht nur die DJs im Kollektiv (Alexander Barck, Claas Brieler und Jürgen von Knoblauch, die auch die Radiosendung unter dem Namen Jazzanova machen), sondern auch die Produzenten (Stefan Leisering und Axel Reinemer, die auch seit 2009 mit einer 9-köpfigen Liveband als Jazzanova touren) Stücke ausgewählt haben. Coming Home zeigt somit alle Facetten der Einflüsse aus denen der spezifische Jazzanova Sound schöpft.

Als Einstieg haben Jazzanova ein Stück mit einem programmatischen Titel gewählt. „That’s Us/Wild Combination“ von Arthur Russell.
„Das sind wir: eine wilde Kombination. Das trifft es schon ganz gut.“, erklärt Alex Barck stellvertretend für Jazzanova. „Klar haben wir unterschiedliche Geschmäcker, jedoch vereint uns immer ein gemeinsamer Nenner“ – Wenn einer von uns mit einer Entdeckung ankommt, können wir darauf vertrauen, dass die was taugt.“ Arthur Russell ist eine legendäre New Yorker Type, die sowohl in der Avantgarde-Szene der Stadt in den späten 70ern unterwegs war als auch in der Disco-Szene. Bekannt sind vor allem seine Disco Produktionen wie Loose Joints „Is It All Over My Face“ und Dinosaur Ls „Go Bang“. „Wild Combination“ zeigt die sanfte und musikalisch sehr offene Songwriter-Seite des Cellisten und Sängers. „Man muss sich in diese Sachen erst reinhören, aber dann wirken sie um so mehr.“, sagt Alex. „Das sind meist die besten Sachen. Stücke die nicht gleich beim ersten Mal zünden, dafür aber um so länger nachwirken.“

Als nächstes folgt eine Ausgrabung aus den Archiven des Stiff Labels.
Rachel Sweet aus Akron/Ohio war die 16-jährige Gewinnerin eines Talentwettbewerbs des britischen Labels. Die Betreiber des Labels waren  in Akron, um Kondome für eine Marketingaktion herstellen zu lassen und machten sich, da sie nun schon mal da waren auf die Suche nach neuen Talenten. „It’s So Different Here“ ist ein Stück ihres Debut-Albums „Fooling Around“ von 1978, das in England zu einer kleinen Disco Hymne wurde. Tensnake haben kürzlich ein Remake produziert.

„Behold These Days, Berlin ’74“ ist ein Song aus dem Jazzanova Soundtrack zu dem Tanztheater-Stück „Belle et fou“.
Es ist eine Hommage an den Symphonic Soul der 70er und speziell an Charles Stepney, der wegweisende Platten mit Rotary Connection, Minnie Riperton und Terry Callier aufgenommen hat. Für Jazzanova markiert der Song den Übergang von Sample basierter Produktionsweise zu der organischen, mit üppiger live Instrumentierung eingespielten Musik, die  das letzte Jazzanova Album „Of All The Things“ zu einem InstantKlassiker machte.

Auch so einer, der aus dem Stand zeitlose Klassiker schreibt, ist José González.
Sein Bandprojekt mit Elias Araya und Tobias Winterkorn heißt Junip. Alex beschreibt sie „als die krautige Variante seiner Musik. José gehört zu den Künstlern, die man gar nicht schlecht finden kann. Der ist Konsens bei uns allen.“

Dann nimmt die Zusammenstellung an Fahrt auf. „How I Got Over“ war die erste Single aus dem gleichnamigen letzten Album von The Roots.
Ein souliges Stück fetten HipHops von der Band die HipHop live spielt, nicht programmiert. „Questlove, der Drummer der Roots war unsere erste Anlaufstation in Amerika. Wir schauen heute noch jedes Mal bei ihm und seinem Buddy King Britt vorbei wenn wir in den Staaten sind. Unserer Wurzeln liegen ja auch im HipHop. Und The Roots haben genau die richtige Balance aus Soul und der Aggressivität von HipHop.“

„Bourgie Bourgie“, der Disco Klassiker von Ashford  &  Simpson in der John Davis Monster Orchestra Version ist fester Bestandteil von Alex Barcks DJ Sets: „Das weiß jeder, der mich mehr als einmal hat auflegen hören. Die Nummer funktioniert in jedem Kontext anders. Das ist zum einen natürlich ein immenser Tanzflächen Kracher, aber wenn mir das Publikum zu poliert ist, signalisiere ich denen damit, dass ich sie zu bourgie bourgie, also zu bourgeois finde.“

„Dancing In The Dark“ ist noch ein Schätzen aus den Stiff Archiven.
Tracey Ullman ist heute eher als Komödiantin und Schauspielerin bekannt. Sie hatte in den 80er aber auch eine Karriere als Sängerin. „Dancing in The Dark“ ist die B-Seite ihres 82er Hits „Breakaway“. Alex: „Stiff Recordings find‘ ich super und diese Nummer mit der großen Produktion und der kleinen Stimme ist sehr komisch und berührend.“

Das nächste Stück führt uns wieder in die Gegenwart. Bodi Bills „Tip Toe Walk“ in einem Remix von Siriusmo.
Moritz Friedrich alias Siriusmo ist ein alter Freund von uns. Und dieses Stück gehört zu der Sorte Stücken, die wir selbst gern gemacht hätten. Die perfekte Mischung aus vertracktem Beat und schönem Songwriting.“

Harmonia, die Krautrock Supergroup von Michael Rother von Neu! und Roedelius und Moebius von Cluster, ist dann wiederum eher überraschend. Jazzanova als heimliche Krautrock Verehrer? „Das ist so eine typisch deutsche Kraut-Elektronik-Geschichte. Wir sind keine Krautrock-Experten, aber diese Art von Analog-Elektronik-Verwebung liegt voll auf unserer Linie. Wir sind auch große Kraftwerk-Fans, wobei das für uns – wegen der Rezeptionsgeschichte in den Staaten im HipHop und Techno – eher Black- bzw. Dance-Music ist. Dieses Hippietum in der Musik, das die Kraurocker verkörpern, dieses Freie und Experimentelle, ist für uns eine sehr erstrebenswerte Sache. Die haben damals in irgendwelchen Hütten auf dem Land gesessen und einfach ihr Ding gemacht und dabei ordentlich gekifft. Das Geld haben mit ihren Innovationen dann andere gemacht.“ „Gollum“ stammt vom zweiten Harmonia Album „Deluxe“.

Anderes Land, anderes Genre, der musikalische Kontrast zwischen Deutschland und Brasilien könnte kaum größer sein. Joyce ist eine der Grand Dames des schier unerschöpflichen Pools an Songwriting Talenten der MPB, der populären Musik Brasiliens. Sie veröffentlich seit den 70er Jahren fantastische Alben. „Feijao Com Arroz“ ist ein Stück aus ihrem 2007er Album „Samba-Jazz & Outras Bossas“, das sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Drummer Tutty Moreno, aufgenommen hat. „Ich finde den Kontrast zwischen „Gollum“ und Joyces „Feijao Com Arroz“ nicht groß.“, sagt Jürgen von Knoblauch. „Viele andere finden ihn groß, denn es sind unterschiedliche Musikstile. Das ’soulige‘ Feeling beider Stücke ist jedoch ähnlich. Hier liegt eine wichtige Jazzanovafähigkeit: Stücke aus unterschiedlichen Musikstilen zu verbinden. Die Klammer ist meisten der Soul in den Stücken.“ Und Alex fügt hinzu:  „Brasilianische Rhythmik war immer in großes Vorbild für uns. Das war immer die Hauptinspiration beim Programmieren der Beats.  Und die unzähligen Songwriting Talente, die dieses Land hat, wie Marcos Valle, Caetano Veloso oder eben Joyce, sind einfach unglaublich.“

Ein Nischen-Dasein fristet hierzulande immer noch Soft Rock, da konnte auch ein kurzer Revival Versuch unter dem Label Sunshine Pop nicht viel dran ändern. In Amerika sind Country Comfort, eine hawaiianische Soft-Rock Band, viel gespieltes Radiomaterial, hier muss man nach ihren Platten lange suchen.  Um so schöner, dass Jazzanova uns das wunderschöne „To Be Lonely“ zugänglich machen. “Stefan hat eine riesige Sammlung an solchen Soft-Rock-Perlen und wir würden auch gerne eine Compilation mit diesen Sachen machen.“

Mit Flying Lotus wechseln wir dann wieder radikal in die Gegenwart.

Sein Remix von Andreya Trianas „Lost Where I Belong“ zeigt den multibegabten Sohn von Alice Coltrane von seiner zugänglicheren Seite. „An die Stelle von Chill und Downbeat, das ja weitgehend von der House Szene übernommen wurde, ist ja Dubstep und so Glitch-Hop-Zeug getreten. Das hören wir heute zum runterkommen. Flying Lotus ist natürlich ein Sonderfall. Der macht eine unglaubliche Live-Show mit einem Riesen-Equipment und ist einer der wenigen von denen ich sagen würde, der beherrscht seine Geräte und wird nicht von ihnen beherrscht.“

Sebastian Studnitzky gehört zur erweiterten Jazzanova Familie.

Der hervorragende Trompeter und Pianist ist auch seit 2009 als Musical Director mit der Jazzanova Live Band weltweit unterwegs. „Fugato“ ist eine moderne BeBop-Nummer aus dem 2010 erschienenen Albums „EGIS“, dass komplett in den Jazzanova/ Exit Studios zusammen mit Axel aufgenommen und produziert wurde. Studnitzky wollte ein ganz bestimmtes Drumfeel haben, dass mit verschiedenen Schlagzeugern nicht ganz getroffen werden konnte, so dass Stefan kurzerhand einfach das Drumsolo  programmiert hat.

Es geht jazzig weiter mit Carmen Lundy.
Die 1954 in Miami geborene Sängerin ist ein ewiger Geheimtipp in der Szene. Sie hat eine klassische Ausbildung als Opernsängerin, ist dann aber dauerhaft zum Jazz konvertiert. „All Day, All Night“ ist von ihrem in Los Angeles aufgenommenen Live Album „Jazz & the New Songbook – Live at the Madrid“. „Das ist noch so ein Fixstern aus der Acid Jazz-Zeit. ‚Morning Kiss‘ von Carmen Lundy war die Dingwalls-Platte. Wir hätten auch noch drei andere Stücke von ihr nehmen können. Sie ist wirklich ein Ausnahmetalent. Dieses Kehlige ihrer Stimme trifft ins Mark, ihre Songs sind großartig und mir hat auch immer dieses 80er-Jahre-mäßige an ihrem Sound gefallen.“

Daz-I-Kue ist Mitglied der Bugz In The Attic, ein Teil der kleinen aber feinen Broken Beats Szene, die ähnlich Jazzanova ihre Liebe zu Soul und Rare Grooves mit avanciertem Beatprogramming ausgedrückt haben. „Daz-I-Kue ist noch so ein langjähriger geschätzter Mitstreiter von uns. Die Broken Beat Szene um 4Hero, Bugz In The Attic und so weiter, das ist eine Szene in der wir uns immer zu Hause gefühlt haben. Die waren leider nicht so gut in Networking und Selbstvermarktung, weshalb auch da wieder andere Leute durchstarten mit Sachen für die sie die Vorarbeit geleistet haben. Das sind sehr introvierte Leute, die nur für die Musik leben. Dego von 4 Hero meinte mal zu mir Moodyman sei auch Teil der Broken Beat-Szene. Er bezog das auf Leute, die durch einiges durchgegangen sind im Leben.“

Das Jamie Cullum ein deutlich breiteres Spektrum an Musik beherrscht als sein Status als Jazz Wunderkind ahnen lässt, hat er mit seinem letzten Album „The Pursuit“ bewiesen. Seine eigenen Songs von diesem Album zeigen einen reifen Songwriter mit vielfältigen Einflüssen. Die Jazzanova Mitglieder kennen ihn persönlich und könnten sich eine Zusammenarbeit mit ihm für die Zukunft gut vorstellen. „If I Ruled The World“ ist eine einfühlsame Coverversion eines Musical Songs von 1963, der vor allem in der Version von Tony Bennett bekannt ist.

Zum Abschluss gibt es dann noch einen gestandenen Jazzer.
Steve Kuhn ist für seine impressionistischen Klavier Platten auf ECM bekannt, aber auf dieser selbstbetitelten Fusion Jazz Platte von 1971 mit Ron Carter, Billy Cobham und Airto Moreira, singt er in einer sehr anrührenden, fragilen Weise. „Der Pianist Steve Kuhn hat sich in den frühen 70ern auch kurzzeitig als Sänger ausprobiert. Sehr gelungen wie ich finde. Das hat so was Herzzerreissendes. Das ist ein Stück, das ich einer Freundin aufs Mixtape machen würde. Natürlich auch wegen des Titels ‚The Meaning Of Love‘. Und hier muss ich noch Enrico Mercaldi erwähnen, der das Mastering für die CD im Time Tools Studio gemacht hat und durchgängig einen Top Job abgeliefert hat. Die Sachen klingen genau so wie sie klingen sollten. Auch die von Vinyl gezogenen wie dieses Steve Kuhn Stück, das es bislang nicht auf CD gab.“


Artist: V/A Titel: Jazzanova Coming Home Label: Stereo Deluxe Vertrieb: Warner VÖ: 26.08.2011Artist: V/A
Titel: Jazzanova Coming Home
Label: Stereo Deluxe
Vertrieb: Warner
VÖ: 26.08.2011






Tracklisting:

  1. Arthur Russell – That’s Us/Wild Combination
  2. Rachel Sweet – It’s So Different Here
  3. Jazzanova – Behold These Days, Berlin ‘74
  4. Junip – To the grain
  5. The Roots feat. Dice Raw – How I Got Over
  6. John Davis & The Monster Orchestra – Bourgie, Bourgie (Extended Disco Version)
  7. Tracy Ullman – Dancing In The Dark
  8. Bodi Bill – Tip Toe Walk (Siriusmo Remix)
  9. Harmonia – Gollum (Instrumental)
  10. Joyce – Feijao com Arroz
  11. Country Comfort – To Be Lonely
  12. Andreya Triana – Lost where I belong (Remix by Flying Lotus)
  13. Studnitzky – Fugato (Instrumental)
  14. Carmen Lundy – All day, All Night
  15. Daz-I-Kue ft Rasiyah – Midnight Clear
  16. Jamie Cullum – If I Ruled The World
  17. Steve Kuhn – The Meaning of Love